Er war der Meister des gesungenen Worts, seine Lieder setzten Maßstäbe in der deutschen Rockgeschichte: Rio Reiser. Er ging immer seiner Nase nach und beeinflusste so ziemlich jeden mit oder ohne Rang und Namen - von Herbert Grönemeyer bis Einstürzende Neubauten, von Haindling bis Ulla Meinecke, von Annett Louisan bis Söhne Mannheims, von Jan Delay bis Echt.
![]() ![]() Künstlerisch katapultierte er sich mit der Veröffentlichung von "Himmel und Hölle" (Columbia/Sony 1995; wieder veröffentlicht 2001 auf Möbius Rekords) endgültig zum wirkungsvollsten deutschsprachigen Künstler. Ein gleichermaßen poetisches wie visionäres, wuchtiges wie präzises Werk, das seinesgleichen im deutschen Sprachraum sucht. Kurioserweise ist aber gerade dieses Album vom "Major"-Markt verschwunden, die Plattenfirma (Sony BMG) strich es nach der Erstpressung aus dem Katalog, und erst seit einigen wenigen Jahren kann man es wieder käuflich unter www.rioreiser.de erwerben. Dort liest sich diese unrühmliche Aktion folgendermaßen: "Es war die sechste und letzte seiner so genannten Solozeit, denn sein Vertrag mit SONY lief im selben Sommer nach zehnjähriger Laufzeit aus und wurde aus beiderseitigem Desinteresse auch nicht verlängert. War die Vertragsauflösung der Schlusspunkt von Rios Liaison mit einem Major, so folgte mit der Streichung der CD nach nur wenigen Monaten der makabre Punkt auf dem i. Für eine Firma wie SONY war das ein normaler Geschäftsvorgang - ein Produkt, das die gesteckte Gewinnmarke unterschreitet, wird nicht weiter produziert. Für Rio hieß das - ab sofort konnte niemand mehr die Songs hören, an denen er gerade noch gearbeitet, und in die er viel Herzblut investiert hatte. That's business."
Bleiben wir gleich beim Nachlass: Rio Reisers Gesamtwerk wird von seinem Bruder Gert Möbius verwaltet, der 1998 und Anfang 1999 die ersten beiden CDs mit ausschließlich unveröffentlichten Aufnahmen von Rio Reiser herausbrachte. "Am Piano I" und "Am Piano II" (jeweils Möbius Rekords) stellt uns beide Male eine durchwegs unbekannte Seite von Rio Reiser vor. Es wurde bewusst nicht auf die Tonqualität geachtet, sondern einzig und allein auf die Qualität der Darbietung, was ein großer Verdienst ist. Cover-Versionen ("Gimmie Shelter"!) wechseln mit Eigenkompositionen, die leider oft nur Fragmente blieben. Herrliche Texte wie eh und je und ein stets leidenschaftliches Pianospiel zeichnen beide Tonträger aus. Sie sind gewissermaßen das zeitlose Antlitz eines Menschen, der viel gelitten hat und noch mehr gab. Rio Reiser - der leidenschaftliche Künstler. Neben diesen, bis dahin unveröffentlichten Aufnahmen, manche sind im Freundeskreis auf DAT-Rekorder im Wohnzimmer eingespielt worden, gibt es auch den Live-Künstler Rio Reiser zu entdecken. 1999 erschien auf Möbius Rekords die hervorragende Doppel-CD "Live in der Seelenbinder-Halle", einem Konzertmitschnitt seines Auftritts in Berlin (DDR) 1988. Im Live-Repertoire standen Lieder aus der Ton Steine Scherben-Zeit wie freilich auch aus seinen bis dahin veröffentlichten Soloalben ("Rio I."; "Blinder Passagier"). Höhepunkt des Albums ist sicherlich die Gänsehaut erzeugende Version von "Der Traum ist aus", einem Lied, das wie kaum ein anderes besser auf einen zerfallenden Staat passt.
Ralph Möbius vulgo Rio Reiser besaß diese seltene Begabung kraft seiner Akzentuierung einfachsten Texten Bedeutung zu geben und inhaltsschwere Texte frei von Pathos und schulhafter Strenge zu interpretieren. Er konnte aufrütteln und jedermanns Narr sein ohne jemals peinlich zu wirken. Der am 9. Jänner 1950 in Berlin geborene Sänger wurde vor allem als Kopf der Gruppe Ton Steine Scherben mit Songs wie "Keine Macht für Niemand" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht" bekannt. Mit dem Gassenhauer "König von Deutschland" (aus "Rio I", 1986, Sony) wurde er auch als Solo-Künstler über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt; die fünf Nachfolgealben jedoch begeisterten zunehmend leider nur noch Kritiker und Musiker. Die Verkaufszahlen sanken permanent in den Keller, auch, weil er sich - aus guten Gründen - verweigerte. Vor allem wenn es darum ging in seltsamen Talk-Shows aufzutreten und gute Laune bei wenig ernstzunehmenden Interviewpartnern einzunehmen. Und überhaupt, wo wir schon dabei sind: Ihm wurde unverständlicherweise seit Beginn seiner Solokarriere und der Vertragsunterzeichnung bei Sony BMG vorgeworfen, dass er sich verkaufe. Mit Leib und Seele. Mit Haut und Haaren. In Schimpf und Schande.
Seinen Alias-Namen Rio Reiser "borgte" er sich übrigens vom Berliner Autor Karl Philipp Moritz (1756-1793) und dessen unvollendetem Roman "Anton Reiser" - eine nüchterne Studie einer zu Depression und Minderwertigkeitsgefühlen führenden psychischen Leidensgeschichte. Außer dieser Namensleihe gibt es so gut wie keine direkte künstlerische Annäherung seitens Rio Reiser an "Anton Reiser" von Karl Philip Moritz, aber es gibt so etwas wie ein Grundgefühl, das beide in ihren Texten bargen. Wenn Moritz z.B. im Dritten Teil von "Anton Reiser" im Jahr 1786 schreibt, "In seiner Denkkraft ging eine neue Schöpfung vor. - Es war ihm, als ob es erst in seinem Verstande dämmerte, und nun allmählich der Tag anbräche, und er sich an dem erquickenden Licht nicht satt sehen konnte.", und Rio Reiser gut 200 Jahre später im Lied "Land in Sicht" (aus dem Ton Steine Scherben-Album "Wenn die Nacht am tiefsten"; 1975) sang, "Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz./Die lange Reise ist vorbei./Morgenlicht weckt meine Seele auf./Ich lebe wieder und bin frei.", und schließlich im Refrain betonte, "Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen,/die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verweh'n.", so lässt sich durchaus eine geistige Künstler-Verwandtschaft erahnen.
Nein, ich lernte Rio Reiser nie kennen und live sah ich ihn nur ein einziges Mal (im Wiener Metropol; es muss so um 1985/86 gewesen sein). Dieses Konzert war auch mein persönlicher Knackpunkt seine Musik weiter zu verfolgen - komme, was wolle. So richtig registriert hatte ich ihn bereits davor, noch mit Ton Steine Scherben und dem berühmten "schwarzen" Album mit dem Titel "IV" (1981; David Volksmund). Darauf ist z.B. des Sängers satirische, da volksliedartige, Version vom Ende der Welt zu hören, und zwar im Lied "Der Turm stürzt ein". Erschienen ist das Lied wohlgemerkt im Jahr 1981, und als es - 9/11 - so weit war und ich die Bilder im TV sah, holte ich verwirrt, verstört (oder irgend wie so ähnlich halt) das Album raus und spielte dieses Lied zu diesen (lautlosen) Bildern, mit diesem Text: "Der Pepsodent von Ju-Es-Ah/ist ein cooler Loser seiner Macht./Glänzend, doch schon rostzerfressen/fliegt er durch den Wilden Westen./..." - und: "Hörst du das Flüstern im Land/.../'ne Tonne Öl kost' tausend Mark./Siehst du die Schrift an der Wand?/Der Turm stürzt ein/Der Turm stürzt ein/Halleluja, der Turm stürzt ein." In diesem galoppierenden Lied gibt es Unmengen weitere Bilder von diesem Terroranschlag, quasi Ahnungen, dass es mal so kommen wird oder so kommen muss. Aber er besaß offenbar den unbeirrbaren Glauben an die Macht der Liebe. In "Erdbeben" (aus dem Album "Himmel und Hölle"), singt er: "Ich seh eine Chance vor dem großen Krach./Liebe, Liebe, Liebe, oder gute Nacht...". Auf eben diesem, seinem letzten, Album gibt es mit dem Lied "Irrlicht" außerdem einen genialen Einstieg ins Album. Kraftvoll, lichterloh brennend, energetisch und ungestüm, brachial und wütend, zupackend und heiser: So sei es, oder, wie wir aus der Kirche wissen: Amen. (Manfred Horak) P.S.: Rio Reiser starb am 20. August 1996 im Alter von 46 Jahren an einem Herzkreislaufkollaps. Anmerkung: Dieser Text basiert auf den - deutlich kürzeren - Artikel "3. Todestag von Rio Reiser", der 1999 vom selben Autor in Der Schallplattenmann sagt erschien. Buch-Tipp: Link-Tipps: |
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